Freitag, 8. Februar 2008

Sex, viel Sex, Sex ist umsonst

Vielleicht ist Pedro Juan Gutiérrez nur ein Pornograf. Vielleicht aber auch wahrhaftiger Protokollant eines gierigen Kuba
Ende der sechziger Jahre schrieb Heberto Padilla den Gedichtband "Außerhalb des Spiels". Er handelte von Politik. Es gab darin Überschriften wie "Instruktionen zum Eintritt in die neue Gesellschaft" und Verse wie "Erstens: Sei optimistisch/ Zweitens: Sei sauber, beflissen, gehorsam/ Und schließlich, gehe/ Wie jedes andere Mitglied/ Einen Schritt vorwärts/ Und zwei oder drei rückwärts/ Aber immer applaudierend."
Ende der neunziger Jahre schrieb Pedro Juan Gutiérrez den Roman "Schmutzige Havanna-Trilogie". Er handelte von Sex. Es gab darin Überschriften wie "Zwei Schwestern und ich dazwischen" oder "Immer ein Arschloch in der Nähe" und Sätze wie "Ich bin ein Zyniker", "Träume sind große Scheiße" oder "Wie das Leben so spielt: Mal bist Du oben, mal unten".
Zwei Bücher, ein Land. Und zwei Geschichten, die mehr verbindet, als es scheint. Sie begrenzen ein Terrain. Erzählen von zwei Möglichkeiten im Verhältnis zwischen Sozialismus und Freiheit, Staatsmoral und Wahrhaftigkeit, der Republik Kuba und ihrer Literatur. Den beiden Optionen, die dort ein Autor hat, der nicht unbedingt Ja sagen will.
Die erste Geschichte beginnt hoffnungsvoll und endet fatal: Heberto Padilla verehrt Fidel Castro und die Ideale der sozialistischen Revolution. Wenig Stalinismus, dafür jede Menge Aufbruch, Ideen, Solidarität. Es sind die frühen Sechziger, Kuba à la Castro gilt als sympathischster Sozialismus der Welt. Dann kommen die Stalinisten doch, Padilla dichtet dagegen an und landet im Knast. 37 Tage später kommt er frei, nach einer Protestnote von Sartre, Pasolini, Vargas Llosa & Co sowie dem öffentlichen Geständnis, er werde "nie aufhören zu bereuen", was er geschrieben habe. Der "Fall Padilla" besiegelt das Ende der kurzen, heftigen Liebe zwischen Revolution und Fantasie. Padilla emigriert, auch Jesus Diaz, Guillermo Cabrera Infante und Zoe Valdes. Kuba schmeißt seine Neinsager raus.
Die zweite Geschichte beginnt im Sommer 1994. Kuba ist im Eimer, die Menschen hungern, am meisten in Havanna. Zu Hunderten stehen sie am Almendares-Fluss und bauen Flöße aus Autoreifen, um es bis Miami zu schaffen. Pedro Juan Gutiérrez schaut ihnen eine Weile zu. Er ist 45, seit mehr als 20 Jahren Journalist, davor Kajaklehrer, Eisverkäufer, Zuckerrohrschneider. Vier Jahre später erscheint in Spanien die "Havanna-Trilogie", sein erstes, autobiografisches Buch. Schauplatz: Havanna '94. Sie seien verzweifelt, mutig, ignorant, diese Flüchtlinge, heißt es da. "Wahrscheinlich gehen Mut und Ignoranz Hand in Hand". Pedro Juan bleibt in Havanna. Bis heute.
Mehr als drei Jahrzehnte liegen zwischen diesen beiden Geschichten, jede Menge historischer Wenden, Fidel Castro unablässig vorneweg, alle Andersdenken zu lenken, alles Unkalkulierbare zu eliminieren. Padilla entschied sich für offenen Widerspruch, Gutiérrez wählt das Arrangement. Beschränkt sich darauf, Elend zu zeigen, Schmutz, Hunger, das Lebensgefühl permanenter Vorläufigkeit, weil "der Alte", wie Castro in einer der wenigen explizit politischen Stellen der "Havanna-Trilogie" genannt wird, ja jederzeit sterben kann und niemand weiß, was dann wird. Schuldige für die Misere nennt Gutiérrez nicht. Dass er Sex in den Mittelpunkt rückt, ist nur konsequent: Die Vorstellung, weltmeisterlich zu kopulieren, ist der einzige Stolz, der Kuba eint.
Pedro Juan Gutiérrez (53) ist ein Mann von stattlicher Statur, Körper eines Athleten, im Blick die Gelassenheit des erprobten Jägers. Er ist der Protokollant des gierigen Kuba und sein bestes Beispiel. Statt Viagra konsumiert er pulverisierten Schildkröten-Penis. Er habe alle seine Beziehungen wegen des Sex begonnen, später sei manchmal Liebe hinzugekommen, sagt er. Dass er mehr als 200 Frauen gehabt habe, erzählt er ungefragt nach zwei Minuten. Französinnen, Amerikanerinnen, Russinnen, Deutsche. Kubanerinnen seien die sinnlichsten und untreuesten von allen. Letzteres zumindest stimmt: Die Scheidungsraten sind enorm, kaum eine Ehe hält länger als fünf Jahre. "Stimmt der Sex nicht mehr, ist die Beziehung verloren", sagt Gutiérrez. Man suche dann besseren.
Es ist die Beschreibung dieser Liebeslebenshärte, der Mentalität des Keine-Zeit-Verlierens, die Gutiérrez zum erfolgreichsten zeitgenössischen Autor Kubas werden ließ. Und es passt zur verkehrten Welt Kubas, dass er diesen Erfolg einzig dem Ausland verdankt. In Spanien, Italien, Deutschland, den USA erreichen seine Bücher Höchstauflagen, Kritiker finden sie "schonungslos", "pulsierend", "ungeschminkt". In seiner Heimat dagegen ist Gutiérrez ein Niemand: Havannas Schmutz findet in Kubas Buchläden nicht statt, nach Veröffentlichung seines ersten Romans verlor er seinen Job. Begründung: keine. Einzig sein dritter Roman "Animal Tropical" wurde aufgelegt, offiziell, das heißt: 30 Exemplare lagen auf der Buchmesse aus, der Rest ward nie mehr gesehen. Immerhin, das inoffizielle Verbot adelt Gutiérrez als relevant.
Zudem hat es der Schriftsteller recht gut getroffen. Ins Ausland darf er regelmäßig reisen, sogar im Ausland verdienen, und von den Schecks aus Übersee lebt er in Havanna wie ein Prinz. Also bleibt er, in seiner geräumigen Dachwohnung im achten Stock, der Aufzug "ein Stück Schrott", die Fassade kurz vor dem Kollaps, dafür ein weiter Blick auf das Meer zur einen Seite und Centro Habana zur anderen: eines der ärmsten, gefährlichsten Viertel der Stadt, für ihn "der schönste Ort der Welt" und Schauplatz all seiner Romane. Er liebe das Viertel, die Menschen, das Gros seiner Romanfiguren lebe hier. Über Politik, gerade über die jüngere, redet er nur hinter vorgehaltener Hand.
Man mag ein solches Leben, wie Gutiérrez es führt, feige finden oder schlau. Man mag von ihm erwarten, er müsse Farbe bekennen, Hector Padillas Erbe fortführen, gerade jetzt, nachdem vor kurzem 75 Regimegegner zu langen Haftstrafen verurteilt wurden und der Kalte Krieg zwischen Kuba und den USA mit einer Vehemenz ausgefochten wird wie lange nicht. Aus westlicher Sicht ist das leicht. Dagegen sprechen 30 Jahre Erfahrung mit den Regeln des Regimes. Dagegen spricht, dass über Havanna nur schreiben kann, wer dort lebt.
Und dagegen spricht, dass die "Havanna-Trilogie" der bislang gültigste Roman ist über Kuba im Spätsozialismus. Er handelt von Leuten, die von Gelegenheitsjobs leben, von Essensresten und nach Flugbenzin stinkendem Rum. Von Glücksspielen, Eifersuchtsdramen, Heiligenkult, knappen, billigen Lycra-Klamotten, jeder Menge Marihuana sowie Schweinehaltung im Reihenhaus - und natürlich vom Sex, viel Sex, denn Sex ist umsonst und Kuba ein heißes Land. Allen voran: Pedro Juan. Gutiérrez' Besessenheit entspringt nicht dem Größenwahn wie etwa bei Kollege Kinski, sondern der Not. Sechs Zoll lang sei seiner, schreibt Gutiérrez. Status in Kuba geht über die Potenz: Meine Frauen, meine Kinder, mein Schwanz.
Das solche Literatur trotz aller pornografischen Repetitessen lesenswert bleibt, verdankt sie vor allem Gutiérrez' Geradlinigkeit. "Wenn ich eine Geschichte in sieben Seiten erzählen kann, verbrauche ich keine zehn", sagt er. "Aufgeräumt" will er schreiben, das Gegenteil von barock, und in der Tat ähnelt sein Stil darin wohltuend seinen Vorbildern: Mark Twain, Jules Verne, Truman Capote. Und er passt zum Thema: Wer übers Leben "für die Minute" schreibt, hat zum Grübeln keine Zeit.
"Der König von Havanna", Gutiérrez' zweiter ins Deutsche übertragener Roman, ist in dieser Hinsicht noch konsequenter. Die Welt ist dieselbe, doch hatte der Erstling noch viele Helden, geht es hier nur noch um einen. Und natürlich ums eine. "Deswegen waren sie auch alle am Arsch: weil sie abgestumpft waren", analysiert Gutiérrez im Erstling seine Umwelt, "und deshalb waren sie auch so abgestumpft: weil sie so am Arsch waren".
Im "König von Havanna" sind solche Einsichten getilgt, erschöpft sich die Diagnose notgeiler Monotonie vollständig in Handlung: Rey ist schweigsam und 13, als Mutter, Bruder und Großmutter vor seinen Augen krepieren. Er kommt in eine Anstalt, haut mit 16 ab, zurück nach Havanna. Schläft im Container, jobbt als LKW-Belader, Kokskurier, Bierkistenstapler. Treibt es mit Alt und Jung, Dick und Dünn, Gastritis und Filzläusen, vor allem aber mit der Transe Sandra und der Erdnussverkäuferin Magda, die für 20 Peso alles macht. Rey besorgt sie es umsonst, denn sein Organ ist mit Perlen ausgestattet, die ihn zum "Mann mit dem goldenen Schwanz" machen. So ist der Rest des Buches, mal abgesehen vom für empfindliche Mägen ungeeigneten Ende: Dauernd holt er sein Ding raus, um es wahlweise zu bearbeiten oder einzuführen.
Das ermüdet auf Dauer, zumal auf Seite 238 auch dem stumpfesten Leser ausreichend klar ist, dass Rey einen "genialen Knüppel" sein Eigen nennt und den "Geruch nach Rum, Tabak, Schweiß sowie unrasierte Achselhöhlen" dem Persil-Sex der Wohlhabenden vorzieht, weil er ein eher "rustikaler Typ" ist. Interessant kann solche Exaltiertheit auf Dauer nur als literarische Strategie sein - als Variante des Strebens nach Freiheit unter den Bedingungen der Diktatur. Gutiérrez' Romane sind interessant, nicht weil sie intelligent oder schön, sondern weil sie typisch sind.
Vielleicht ist alles ein großes Missverständnis. Vielleicht lacht sich Gutiérrez, der zynische Sexmaniac, ins Fäustchen ob der Kritiker, die ihm Allerleischlau andichten. Auch egal. "Innerhalb der Revolution alles, außerhalb der Revolution nichts", verkündete Castro 1961. Steht Gutiérrez außerhalb? Sicher, aber es ist ihm schwer nachzuweisen. So gesehen ist Gutiérrez, ob gezielt oder nicht, Padillas cleverster Erbe. Und so gerät ausgerechnet ein Pornograf zum literarischen Sachwalter von Kubas schweigender Mehrheit.
Einer Mehrheit, die die Kehrseite des offiziösen Kuba täglich erleidet, die Amerikaner hasst, Dollars liebt und von der Illegalität lebt. Die sich entschieden hat, Castros Regeln nicht zu bekämpfen, sondern zu umgehen. Kubas Volk rebelliert nicht - es ignoriert. Es steht längst außerhalb des Spiels.
Pedro Juan Gutiérrez: Der König von Havanna. Hoffmann & Campe, Hamburg. 287 S., 19,90 EUR.

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